Die Propyläen, Münchner Zeitung

10 janvier 1905.

 

Hermann Hesse

 

Der Immoralist von André Gide, übersetzt von F. P. Greve (Verlag J.C. Bruns, Minden) zeigt wieder einmal, wie unendlich schwer solche Uebersetzungen sind. Greve’s gewissenhafte Arbeit ist im Einzelnen nirgends schlecht und fast nirgends anfechtbar, aber das ganze Buch hat von dem eigentümlich noblen, kühlen Glanz des französischen Originals wenig mehr. Immerhin ist die Treue und Klarheit seiner Übersetzung aller Anerkennung wert, und da Der Immoralist ein sehr apartes und bedeutendes Werk ist, möchte ich ihn hier doch nicht übergehen.

Ein ruhiger, begabter und fleiβiger junger Mensch, Sohn eines Philologen und selbst mit archäologischen Studien beschäftigt, ein bescheidener und fast temperamentloser Gelehrter, heiratet nach dem Wunsch seines Vaters Marzeline, ein hübsches Mädchen von etwa zwanzig Jahren. « Wenn ich meine Braut nicht liebte, so hatte ich wenigstens nie eine andere Frau geliebt. Das genügte in meinen Augen, um unser Glück zu sichern ; und da ich mich selber noch nicht kannte, glaubte ich mich ihr ganz zu geben. Ich liebte sie wenn man Zärtlichkeit, eine Art Mitleid und schliesslich eine ziemlich hohe Achtung darunter vestehen will. » Der junge Mann dachte nach der Heirat ohne wesentliche Veränderungen sein bisheriges Gelehrtenleben weiter zu führen. Er war von schwächlicher Gesundheit, hatte aber nie darauf geachtet oder darunter gelitten, da sein gleichmäβig stilles, behaglich eingefriedetes Stubendasein keine Stürme gebracht und keine Anstrengungen gefordert hatte. Nach der Hochzeit reist Michel und Marzeline nach Nordafrika, um die Hochzeitsreise möglichst auch zu archäologischen Studien auszunützen. Auf dieser Reise bricht der schwächliche Mann zusammen und ein schwerer Anfall belehrt ihn darüber, dass er schwindsüchtig ist. Er bleibt in Biskra und Marzeline, die ihn zärtlich liebt, pflegt ihn mit hingebendster Aufopferung. Und nun hebt bei Michel eine ganz neue innere Entwicklung an. Die Todesgefahr zeigt ihm das Leben in neuem Licht, jeder Atemzug gewinnt Bedeutung und wird wertvoll, der Kranke lernt seinen Körper kennen, lieben und anders wünschen, lernt animalische Kraft und physisches Wachstum schätzen. Er sieht sich einem Feind gegenüber, gegen welchen Geist und Wissen machtlos sind, den nur Kraft und Wille zwingen können. Er, der bis dahin seine Tage gelassen und dumpf dahingelebt, lernt jetzt das Leben, die Gesundheit, das Körperliche schätzen, und im Fanatismus des Gesundwerdenwollens wirft er seine früheren Interessen verächtlich von sich, will von Geist, Wissenschaft, Konvention, ja Kultur überhaupt nichts mehr wissen. Mit dem miβtrauischen Instinkt des Schwerkranken verwirft er alles, was ihm nicht zur Genesungsquelle werden, ihn nicht mit Eindrücken und Beispielen vitaler Kraft erregen kann. So wird er der Immoralist, denn indem er diese Betrachtungsweise aufs Menschliche, auf Geschichte und Gegenwart anwendet, findet er überall die gröβere Kraft und Lebenswucht im Losgebundenen, Unmoralischen, Schrankenlosen.

Und diese Lebensauffaussung bleibt ihm auch nach der Krankheit. Denn er gesundet wirklich und erkämpft sich eine Beherrschung und Stählung der Kräfte, die er früher nicht geahnt hatte. Aber seine Weltanschauung wird nur teilweise zu Leben, sie äuβert sich mehr in seiner Art zu beobachten und zu denken als in seinem Handeln. Immerhin ändert sich auch sein äuβeres Leben ; seine Studien gehen andere Wege und nach anderen  Zielen und, nach Frankreich zurückgekehrt, nimmt er sich der Verwaltung seiner Güter, die er früher kaum gekannt hatte, selber an, wobei sein Besitzergefühl mit seinem Hang zur Begünstigung des Lasters, Ungehorsams u.s.w. öfters in fast possierliche Konflikte gerät. So geht er z.B. im eigenem Wald nächtlich zum Wildern.

Inzwischen bereitete sich das Verhängnis vor. Marzeline hat damals, während sie den kranken Gatten pflegte, sich eine Ansteckung zugezogen, die nun allmählich zum Ausbruch kommt. Und bei ihr hilft Reisen und Pflegen nichts mehr. In unheimlicher Hast suchen die beiden alle jene südlichen Orte auf, die einst Stationen für Michels Genesung bezeichneten, aber umsonst. Und während er sie langsam sterben sieht, ohne sie pflegen zu können, wie sie es einst an ihm tat, wendet sich seine Scheu vor allem Kranken auch gegen sie. Der Kampf dieser Regungen mit seiner Scheu und seinem Schuldgefühl reibt ihn auf und nach ihrem Tode bleibt er freudlos und ohne Tätigkeit in Biskra, einem vegetativen, orientalisch schlaffen Halbleben hingegeben. Schlieβlich ruft er Freunde zur Hilfe, denen er seine Geschichte mitteilt ; ob es diesen Freunden gelingen wird, ihn zur Tätigkeit und Lebensfreude zurückzuführen, bleibt offene Frage.

Der Autor vergleicht in einer unnötigen Vorrede sein Buch mit Wüstenfrüchten, « die an verdorrten Orten wachsen und dem Durst nur einen wilderen Brand darbieten, doch auf dem Goldsand nicht ohne Schönheit sind. » Der Vergleich ist gut und bescheiden.

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